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Den Erinnerungen hängt immer etwas Verworrenes an‘
von Benita Meißner
Einführung in den Doppelpass VI



Seit 2015 sprechen wir in Deutschland von einer ‚Flüchtlingskrise‘, die nicht getrennt von Klimawandel, Kriegen und kolonialen Kontinuitäten betrachtet werden kann. Fragen nach Herkunft, Heimat oder dem Zuhause werden vermehrt auch von Künstler*innen aufgegriffen und Themen wie Identität, Rollenbilder sowie Diasporaerfahrungen neu verhandelt. Der Begriff ‚Heimat‘ wird heute extrem aufgeladen besprochen und schürt politische und alltägliche Konflikte sowie existentielle Ängste. Heimat ist aber auch ein übergeordneter Begriff und heutzutage sehr individuell bestimmt, er bezieht sich nicht auf einen einzigen Ort, sondern weitet sich über das Geografische hinaus.

Der Band 291 des Kunstforum International trägt den Titel ‚Heimat – über ein ambivalentes Gefühl‘, die Bundeskunsthalle Bonn widmet eine der zentralen Ausstellungen des Jahres 2023 dem Thema ‚Wer wir sind. Fragen an ein Einwanderungsland‘ mit der Erklärung, dass Migration kein Sonderfall, sondern der Normalzustand sei, zu jeder Zeit und überall auf der Welt. Daran schließt die Ausstellung ‚Deine Hand auf meiner Schulter‘ thematisch an durch eine künstlerische Annährung an die Frage „wo bin ich Zuhause?“. Der Doppelpass VI zeigt die unterschiedlichen Suchbewegungen der beiden Künstlerinnen Judith Hummel und Esther Zahel und lädt ein sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen oder sich ebenfalls auf eine Reise in die eigene Vergangenheit zu begeben.

Migration findet dauernd statt; ein Zustand, der sich aber für die Betroffenen alles andere als normal anfühlt. Viele Personen leben in Deutschland auf Grund der Fluchtbewegungen der Großeltern oder Urgroßeltern. 

Eine auffallend große Fluchtwelle wurde im Herbst 1944 durch Gewaltverbrechen der sowjetischen Soldaten an deutschen Zivilisten ausgelöst. In den Wintermonaten 1944/45 zogen Millionen aus dem Osten, von Pommern bis Rumänien bei Schnee und Kälte zumeist zu Fuß zurück in die ‚alte Heimat‘. So auch Barbara Hummel, eine Donaudeutsche, die im September 1944 aus dem rumänischen Banat, Sackelhausen, über Ungarn nach Österreich floh. Im April 1945 kam sie im österreichischen Münzkirchen an, um nach ihrer dortigen Heirat dann 1952 in Wannweil, Reutlingen, sesshaft zu werden. 

Ihre Enkelin Judith Hummel macht sich seit 2019 in ihrem filmisch-performativen Triptychon ‚Wo komme ich her? Gehen – von Rumänien nach Deutschland‘ auf eine Reise in die Vergangenheit und versucht den Fluchtweg der Großmutter nachzuvollziehen. Begleitet wird sie dabei von Laura Kansy, die die Kamera führt, und ihrer Mutter Margret Hummel. Das geografisch-physische Zurückgehen ist der Motor für Mutter und Tochter, sich über die bestehenden Verbindungen zwischen den Generationen auszutauschen und der Fluchtgeschichte nachzusinnen.

Judith Hummel taucht in die Vergangenheit ein – manchmal körperlich und impulsiv wie in der 2. Filmetappe – um sich den teilweise traumatischen Erlebnissen der Familie, die sich in das System eingeschrieben und ihre Spuren hinterlassen haben, zu stellen. Das Projekt startet zu einem Zeitpunkt als das Gedächtnis der Großmutter zu verblassen beginnt und Tochter und Enkelin beschließen, die vorhandenen Erinnerungen zu sortieren und aufzubewahren. Die drei Filme sind mehr als Etappen einer Reise, es sind Verdichtungen von Erinnerungen und Emotionen.

Während bei Judith Hummel die einzelnen Personen der Familie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, schafft Esther Zahel mit ihrer mehrteiligen, raumfüllenden Installation ein fiktives Zuhause, voll vertraut wirkender Möbelstücke, das aber menschenleer ist. Es handelt sich um partiell mit Acryl kolorierte, großformatige Kohlezeichnungen auf Leinwand, die Raumsituationen andeuten. Die zeichnerischen Elemente erwachsen aus eigenen Erinnerungen und bekannten Formen. Über die Einbindung architektonischer Elemente kreiert die Malerin eine Brücke zwischen Narrativ und Realität: Fenster, Tür und Balkongeländer werden ganz selbstverständlich zum Teil des Ganzen. Die Installation zeigt den Mut der Künstlerin prozesshaft zu arbeiten und manches nur anzudeuten.

Ihre Malerei erzählt den Anfang vieler Geschichten und lädt ein diese weiter zu träumen oder mit eigenen Erinnerungen auszumalen. Die einzelnen Bildelemente wurden von der Künstlerin mit Titeln versehen, die sich direkt an dendie Betrachterin wenden, so trägt ein Ensemble aus Tisch und zwei Stühlen den Titel ‚Wir müssen mal reden‘. Die Titel erinnern aber auch an Gedankenfetzen, Fragen oder Notizen aus einem Tagebuch, so lautet der Titel des Bildes mit Balkonelement ‚Laue Morgenluft auf deiner Haut‘ und der Titel für das Küchenbild ‚Der Sauerteig der Schwiegermutter‘. ‚Das Geflecht meiner Wurzeln’ zeigt ein Bücherregal, die Buchrücken sind mit den Namen von Zahels Vorfahren beschrieben. Welche Namen tauchen auch in unseren Stammbäumen auf? Sind die Geschichten der einzelnen Personen in diesen Büchern nachzulesen? Wie wäre mein Bücherregal bestückt?

Deine Hand auf meiner Schulter‘ erzeugt ein inneres Bild einer zärtlichen Berührung zwischen vertrauten Personen, wie zum Beispiel zwischen Mutter und Tochter. Es hat etwas Beschützendes und Liebevolles. Die Begegnung der beiden Künstlerinnen im Ausstellungsraum verbindet sich rücksichtsvoll: die eine baut einen Raum für die Filme der anderen, die wiederum schenkt dem schnörkeligen, gezeichneten Bilderrahmen ein Motiv ihrer Reise. Der Blick über den Balkon führt uns zu einer Knopfinstallation von Judith Hummel, die uns den Weg zur Empore weist, um dort unsere eigenen Gedanken und Assoziationen auf den Postkarten von Judith Hummel zu hinterlassen.

So transformiert sich das Bild der persönlichen Erinnerungen an das Näharchiv in Schachteln von Barbara Hummel in ein gemeinschaftliches Archiv der Besucherinnen, die auf den Rückseiten der Karten sehr persönliche Nachrichten zu ihrer Vorstellung von ‚Zuhausesein‘ hinterlassen. Es ist sind oft eher flüchtige Dinge wie Gerüche oder Geräusche, die ein Zuhause ausmachen: der Geruch von frischem Kaffee oder der Duft von Nivea-Creme der Kindheit, das Geigenspiel des Vaters, manchmal aber auch der sehr private physische Raum, wie das eigene Bett.

Vor dem Verlassen des Ausstellungsraumes haben die Besucher*innen die Möglichkeit das Gesehene im Außenraum noch nachwirken zu lassen in dem sie den Audiowalk aktivieren. Dieser wurde von Ruth Geiersberger und Judith Hummel eingesprochen und lädt zu einer auditiven Erfahrung im Gehen und einem meditativen Spaziergang durch die Stadt ein. Am Ende wird man ermuntert einen der bunten Wollquasten von Barbara und Margret Hummel im Außenraum an einem Ort seiner Wahl zu hinterlassen.

Benita Meißner
Kuratorin

Diesen und weitere Texte können Sie in der Publikation zur Doppelpass VI – Ausstellung ‚Deine Hand auf meiner Schulter‘ lesen.

Abb.: Ausstellungansicht ‚Deine Hand auf meiner Schulter‘, DG Kunstraum 2023, Foto: Gerald von Foris